Das Münchner Abkommen

"Die Behandlung der sudetendeutschen Frage in München ähnelt nach der formalen Seite der Methode ihrer Behandlung auf der Versailler Konferenz. In beiden Fällen handelte es sich um die Festlegung der Zugehörigkeit eines umstrittenen Gebietes durch Großmächteentscheid, auf die die Vertreter der unmittelbar interessierten Bevölkerung keinen direkten Einfluß haben. In Paris war, als die Delegation Deutschösterreichs in St. Germain eintraf, die Frage der künftigen Zugehörigkeit der Sudetengebiete bereits entschieden. Materiell stellt die Zuweisung der böhmischen Deutschen an den neuen tschechoslowakischen Staat eine eindeutige Verletzung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes dar, das Wilson verkündet hatte und das in dem den Waffenstillstands-Verhandlungen vorausgehenden Notenwechsel mit Deutschland zum obersten Grundsatz der Grenzziehung erhoben worden war. Die Sudetendeutschen waren bei den Verhandlungen selbst nicht zu Wort gekommen ... Beim Münchner Abkommen sehen wir, was die Teilnahme der Hauptinteressenten betrifft, einen ähnlichen Vorgang. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß diese Parallele nur für die Verhandlungen in München selbst zutrifft. Aber diese waren indes nur der Schlußpunkt monatelanger diplomatischer Verhandlungen, die sich vom April 1938 an hinzogen, und an denen die tschechoslowakische Regierung ... gleichberechtigt teilgenommen hatte. Die Alternative: weitgehende Konzessionen - Annahme des Nationalitätenstaatskonzepts - samt weiterer Unterstützung durch Frankreich und England oder Unnachgiebigkeit und damit Isolierung war frühzeitig klargemacht worden. Die Tschechoslowakei war allein am Schlußstadium der Verhandlungen nicht beteiligt. Inhaltlich stand die Münchener Regelung freilich, im Gegensatz zum Versailler Entscheid, mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht im Einklang und sie erfolgte auf der Grundlage der tschechoslowakisch-anglo-französischen Einigung vom 21. September 1938." *172)


Abbildung 7: Der Zerfall der Tschechoslowakei


In seinem Hauptteil stellt das Abkommen das Durchführungsverfahren für die am 21. September von Prag prinzipiell zugestandene Abtretung und für den auf der Grundlage von Hitlers Godesberger Memorandum ausgehandelten Besetzungsmodus fest. Im Zusatz wurde das Grenz-Garantieprojekt, von dem die britisch-französische Note vom 19. September gesprochen und das die tschechoslowakische Zustimmung vom 21. September als wesentlich bezeichnet hatte, auch von Deutschland und Italien akzeptiert. Der nach der ersten Zusatzerklärung konstituierte Ausschuß begann seine Tätigkeit noch am gleichen Tag in Berlin. Die in der zweiten Zusatzerklärung vorgesehene weitere Konferenz brauchte nicht einberufen zu werden, da Polen die beanspruchten Gebiete sofort besetzte und Ungarns Forderungen durch den ersten Wiener Schiedsspruch am 2. November 1938 geregelt wurden. *173)

"Als die deutsche Wehrmacht am 1. Oktober 1938 in die betroffenen Gebiete einmarschierte, wurde sie von der dortigen Bevölkerung begeistert begrüßt." *174) Niemand "hatte das Gefühl, daß den Tschechen damit ein Unrecht geschehe. Warum sollte man die Verwirklichung jenes Prinzips, auf das sich die Tschechen bei der Gründung ihres Staates berufen hatten, als ein Unrecht ansehen? Und mit welchem Recht forderten die Tschechen Treue zum Staat von einer Nation, der sie nie das Recht zu wirklicher Mitbestimmung in diesem Staate eingeräumt hatten? ... Es wäre wahrhaftig viel verlangt gewesen, hätte man den Sudetendeutschen zumuten wollen, daß sie nun einem Staate nachtrauerten, der ihnen bis zuletzt den Anspruch auf Gleichberechtigung verweigerte, sie gedemütigt, verhöhnt und immer wieder betrogen hatte." *175)


Abbildung 8: Begrüßung der Wehrmacht am 12. Oktober in Müglitz, Bezirk Hohenstadt/March

"Die Sudetendeutschen brauchten den Tschechen gegenüber schon deshalb kein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie ihnen nichts wegnehmen wollten, was ihnen nach Recht und Billigkeit gehörte. Die Tschechen hatten einst Österreich im Namen des Nationalitäten- und Nationalstaatsprinzips zerstört. Im Namen des gleichen Prinzips war nun ihr Pseudo-Nationalstaat zerschlagen worden. Die Sudetendeutschen waren überzeugt, daß die neue Grenze endgültig sein werde. Sie hatten sich von den Tschechen getrennt, weil die Jahre seit 1918 ihnen gezeigt hatten, daß beide Völker nicht in Frieden und gedeihlicher Arbeit zusammenleben können, wie jahrhundertelang ihre Väter zusammenlebten. Sie hatten also keine Sehnsucht danach, die eben gezogene Grenze niederzureißen und wieder mit den Tschechen in einem Staat zu leben. Es war zweifellos eine verschwindend kleine Minderheit, die sich schon damals mit dem Gedanken trug, die "Resttschechei" in das Großdeutsche Reich einzubeziehen. Welche Pläne Hitler hegte, wußte man nicht. Man rechnete damit, daß durch einen Bevölkerungsaustausch die noch im Sudetengau verbliebenen Tschechen gegen die in der neuen Tschechoslowakei lebenden Deutschen ausgewechselt würden. Man wollte den tschechischen Nationalstaat räumen und die Tschechen im deutschen Gebiet loswerden. Zwar waren die Deutschen in Prag, Iglau, Pilsen, Budweis, Olmütz, Brünn, Ostrau und Wischau 700 Jahre ansässig, während die Tschechen in Brüx, Dux und Karbitz erst seit 60 Jahren und, wo sie sonst noch saßen, eben erst seit den zwanziger Jahren, aber man war trotzdem bereit, auf diesen Tausch einzugehen. Já pán - ty pán! hatte Havli¹ ek einst verkündet: Jeder sein eigener Herr." *176)


Abbildung 9: Überstempelte Briefmarken aus Rumburg (Nordböhmen)


Doch bald mußten die Sudetendeutschen erkennen, daß sie sich hinsichtlich der Dauerhaftigkeit der neuen Grenze getäuscht hatten. Am 15./16. März 1939 marschierte die Wehrmacht in die sogenannte Resttschechei ein und das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren wurde gebildet, während die Slowakei ein formell unabhängiger Vasallenstaat Deutschlands wurde. Die meisten Sudetendeutschen verfolgten diesen Schritt der deutschen Regierung mit Unverständnis, war man doch froh gewesen, endlich von den Tschechen getrennt zu sein.


Abbildung 10: Das Deutsche Reich Ende 1938

*172) Raschhofer, Hermann; Kimminch, Otto: a.a.O., S. 183 f. *173) vgl. Habel, Fritz Peter; Kistler, Helmut: Die Konferenz in München, in: Informationen zur politischen Bildung, a.a.O., S. 16 *174) Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen: a.a.O., S. 152 *175) Franzel, Emil: a.a.O., S. 398 f.
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