Die Gegensätze verschärfen sich

Die Deutschen in den böhmischen Ländern haben von 1848 bis 1914 wiederholt die Forderung erhoben, Kronländer mit mehreren Völkern in Gebilde gemäß den Sprachgrenzen zu teilen, z.B. in Böhmen ein eigenes Kronland Sudetenland einzurichten, durch welches die rein deutschen Gebiete vereinigt werden sollten. *66) Hierzu zählt auch der Vorschlag, das Kronlad Böhmen in ein (böhmisches) Königreich Böhmen und ein (deutsches) Erzherzogtum Böhmen-Eger zu teilen, wie er von Heinrich Hanau in seiner "Karte der Teilung Böhmens" veröffentlicht wurde. Im Vorwort ist zu lesen, daß "die Idee, zwei sich schroff gegenüberstehende Nationen unter einem Dache belassen zu wollen, eine unglückliche ist. In der Politik ist das so wie im häuslichen Leben, wenn zwei Rivalinnen in einem Haus beisammen wohnen ... müssen nicht bloß auf tschechischer Seite, sondern auch auf deutscher Seite Opfer gebracht werden, um friedliche Verhältnisse zu erreichen. Die Tschechen müssen darauf verzichten, ein durch die Gebirge begrenztes Königreich zu besitzen, sondern mit der Sprachengrenze zufrieden sein und die Deutschen müssen auf den in dem Herzen des Königreiches Böhmen gelegenen Teil von Prag verzichten. So schwer auch dieser Verzicht für die Deutschen der Stadt Prag ist, da unendlich viele geschichtliche Momente an das alte deutsche Prag erinnern, so ist dieses Opfer doch der Friede ihrer deutschen Landsleute wert. Aus dem deutschen Böhmen müßte ein Erzherzogtum Böhmen - Eger gemacht werden, nämlich mit Eger als der Hauptstadt, und es würde dann ein ähnliches Verhältnis wie in Deutschland entstehen, wo das Herzogtum Sachsen-Altenburg neben dem Königreich Sachsen liegt. Die ehrwürdige Stadt Eger würde sich gewiß sehr gut zum Sitz der Regierung des Erzherzogtums eignen, und für die deutsche Prager Universität würde ich die Übersiedlung nach Leitmeritz in Vorschlag bringen, was eine wie dazu geschaffene Universitätsstadt gleich Bonn und Heidelberg abgeben würde, in der ein echtes Studentenleben Platz greifen könnte ..."

In den böhmischen Ländern war deutscherseits im 19. Jahrhundert die Neigung zur Beibehaltung einer "modernisierten" habsburgischen Monarchie, die dem Deutschen Bund angehörte, mindestens zunächst stärker als der Wunsch, die deutschen Gebiete in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien direkt in ein deutsches Reich einzugliedern. Als Folge des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 ging der Deutsche Bund jedoch unter. Damit war abzusehen, daß gegenüber den zur Selbständigkeit drängenden Nationalitäten innerhalb des Habsburgerreiches die bisherige Bindegewalt des deutschen Elements schwerlich mehr ausreichen würde. Das sollte sich später am Schicksal der österreichischen Sozialdemokratischen Partei erweisen, als 1891 der tschechische Sprecher Vavra erklärte, man müsse den Pflichten gegenüber der eigenen Nation gerecht werden. 1896 war die Entwicklung soweit fortgeschritten, daß die ursprünglich marxistisch-internationale Gesamtpartei nurmehr als Verband nationaler sozialdemokratischer Parteien der verschiedenen Völker betrachtet werden konnte. "Obwohl den Arbeitern aller Nationen in Österreich die gleichen Aufgaben zukamen, hatten die tschechischen Sozialdemokraten also um ihres nationalen Bekenntnisses willen die einheitliche Organisation aufgelöst", stellte ein führender Sozialdemokrat später fest. Unter diesen Umständen war es fast zwangsläufig, daß in diesem Raum Parteien entstanden, die die anstehenden sozialen Fragen ausschließlich unter nationalem Aspekt zu lösen gedachten. 1897 gründeten Tschechen die erste "Nationalsozialistische Partei" der Welt. im Jahr 1904 folgte die Gründung der antimarxistischen, aber zunächst eher linksstehenden "Deutschen Arbeiterpartei", die sich ab 1918 "Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) nannte. Damit wurden Entwicklungen deutlich, die jahrzehntelang zeitlich parallel verliefen. Seit 1866 sollten sich die Deutschen in Böhmen und Mähren in erster Linie als Österreicher fühlen und waren bezüglich ihrer politischen Handlungsmöglichkeiten allein auf Wien verwiesen. Angesichts des 1871 gegründeten Deutschen (Kaiser-) Reiches begann die Polarisierung zwischen "Großdeutschen" und der langsam abnehmenden Mehrzahl der Deutschen, die staatlich im Habsburger Reich weiterhin ihre politische Heimat sahen. *67) Soziale Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärften die nationalen Spannungen. Die Abwanderung von nach der Bauernbefreiung 1848 freigesetzten tschechischen Bauern in die Städte, die Arbeitsplätze in der Industrie anboten, ließ dort den tschechischen Bevölkerungsanteil sprunghaft anwachsen. So waren 1847 noch 64 v.H. der Bevölkerung Prags deutsch und ein aus Trier stammender Puplizist namens Karl Marx warnte vor dem Panslawismus der Tschechen. 1857 war der Anteil der Deutschen in Prag auf 44 v.H. und 1880 auf bloße 20 v.H. geschrumpft. Die Untätigkeit der kaiserlichen Regierung verlagerte den Volkstumskampf bald in zahlreiche nationale Vereine (Schutz- und Schulvereine), Parteien und Bünde, wobei jede Gründung der einen Seite mit einer Gegengründung der anderen Seite beantwortet wurde. So gründeten großdeutsch Gesinnte 1860 den "Turnerbund", der mit der Turnerbewegung in Deutschland in Verbindung stand und 1862 Tschechen den insgesamt vergleichbaren, jedoch panslawistisch orientierten "Sokol" (Falke). In den Strudel dieser Entwicklung gerieten auch die erst nach 1848 tatsächlich emanzipierten Juden. Von rund 17.000 Angehörigen des jüdischen Glaubens in Prag erklärten bei der Volkszählung 1890 rund 12.600, die deutsche Umgangssprache zu benutzen; 1900 waren es unter dem Druck der Umgebung von 18.000 nur mehr 8.200 Personen. Faktisch gaben sich viele Juden äußerlich als Tschechen, waren religiös Volljuden und sprachen in der Familie deutsch. Unter Tschechen und Deutschen war bei aller Anerkennung von zum Beispiel Heine und Mendelssohn in literarischen und musikinteressierten Kreisen politischer Antisemitismus ziemlich verbreitet. 1918/19 sollten jüdische Geschäfte in Prag geplündert werden, ab 1921 die CSR eine eigene jüdische "Nationalität" schaffen. *68)

Zusätzlich belastet wurden die Beziehungen zwischen Slawen und Deutschen durch die Politik des Ministerpräsidenten Kasimir Badeni. Er wollte seine Hauptaufgabe, die parlamentarische Erneuerung des Ausgleichs mit Ungarn, 1897 durch Konzessionspolitik lösen: die Liberalen durch Steuerreform und die Erweiterung von bisher vier Wählerkurien durch eine neue allgemeine auf fünf gewinnen, die Jungtschechen durch die Sprachverordnungen 1897, die für Böhmen und Mähren auch in rein deutschen Gebieten die Doppelsprachigkeit für alle Gerichts- und Verwaltungsbehörden und ihre Beamten erzwang, und schließlich die Christsozialen durch die kaiserliche Bestätigung Luegers als Bürgermeister Wiens. Badeni verkannte die innenpolitischen Spannungen in Zisleithanien, vor allem den Widerstand der deutschen Parteien gegen die Folgen der Wahlrechtsreform (Verlust der Mandatsmehrheiten) und gegen die Negierung ihres ethnisch-nationalen Autonomieverlangens durch die Sprachverordnungen. Badenis Politik verhinderte die Ausgleichserneuerung, führte vielmehr zur Badenikrise, die seinen Rücktritt im November 1897 erzwang. Diese Krise hatte eine folgenschwere Erschütterung des Grundgefüges der Donaumonarchie, vor allem in der westlichen Reichshälfte zur Folge. Es kam zu Demonstrationen und nationalen Agitationen vor allem der deutschen Parteien, zu Tumulten in Prag, Wien und Graz, schließlich Blockadepolitik und Krawallen im Reichsrat, welche bis 1906 ein Regieren mittels des Notstandsparagraphen erforderlich machten.

Bei den Unruhen in Prag am 28. November 1897 forderten Tschechen, daß den deutschen Studenten das öffentliche Farbentragen verboten werden solle. "Ein riesiges Militär- und Polizeiaufgebot mußte den "Bummel" der deutschen Studenten auf dem Prager Graben schützen ... Die Sudetendeutschen sangen, als man ihnen vorwarf, daß sie nach Deutschland "schielten", das Trutzlied:

Wir schielen nicht, wir schauen,
wir schauen unverwandt,
wir schauen voll Vertrauen
ins deutsche Vaterland!" *69)

Die Badenikrise verschärfte die deutsch-tschechischen Gegensätze, initiierte deutsche antihabsburgische, ja antiösterreichische Tendenzen und verstärkte die Zweifel an der Funktion und Praxis des Ausgleichs.


*66) vgl. Veiter, Theodor: a.a.O., S. 20
*67) vgl. ebd., S. 27 f.
*68) vgl. Habel, Fritz-Peter: Die Sudetendeutschen, a.a.O., S. 27
*69) Franzel, Emil: a.a.O., S. 286

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