Die Einverleibung der sudetendeutschen Gebiete in den tschechischen Staat

"Schon vor dem Manifest Kaiser Karls ... hatte die österreichische Regierung an Präsident Wilson die Bitte um einen sofortigen Waffenstillstand gerichtet. Die Antwort der Amerikaner - so die "Zwittauer Nachrichten" - bedeutete eine grimmige Enttäuschung. Wilson scheut sich nicht, jene seiner Bedingungen, daß den Völkern Österreich-Ungarns die Möglichkeit autonomer Entwicklung gewährt werden soll, einfach zu widerrufen ... Er erklärte, daß "der tschechisch-slowakische Nationalrat (in Paris) eine de facto kriegführende Regierung und mit der entsprechenden Autorität ausgestattet sei, die militärischen und politischen Angelegenheiten der Tschecho-Slowaken zu leiten. Er sei daher nicht mehr in der Lage, die bloße Autonomie dieser Völker als eine Grundlage für den Frieden anzuerkennen ..." *84)

Am 28. Oktober 1918 bildete sich in Prag ein Nationalrat, der den unabhängigen tschechoslowakischen Staat proklamierte und die Regierungsgewalt übernahm. Für die Sudetendeutschen entstand eine überaus heikle Lage. Die Gründung der Tschechoslowakei auf Berufung von Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker bedeutete nicht, daß dieser Staat auch die historischen Grenzen von Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien haben müsse. Auch unter Berufung auf Kaiser Karls Manifest konnte sich diese Staatsgründung nur auf tschechisches Gebiet beziehen. Doch schon bald war klar, daß der neue Staat Herrschaft über das ganze Territorium der Kronländer beanspruchte und den Sudetendeutschen kein Selbstbestimmungsrecht gewähren wollte. *85)

"Parallel mit den Prager Ereignissen am und nach dem 28. Oktober hatten sich die Gebiete Deutsch-Böhmen und Sudetenland als Bestandteile Deutsch-Österreichs konstituiert. Die deutschen Abgeordneten Seeliger und Lodgmann suchten, wie Beneë erwähnt, am 30. Oktober den Prager Nationalausschuß auf, "was mit einem Mißerfolg endete". Die sudetendeutsche Haltung stützte sich auf die von Wilson formulierten Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Ihre genauere Begründung findet sich in der von den sudetendeutschen Vertretern bei der deutsch-österreichischen Friedensdelegation verfaßten und unterzeichneten Note. Die dort entwickelten Gesichtspunkte hatten, von den Tagen des Zusammenbruchs an, die sudetendeutsche Haltung bestimmt." *86)

Doch die Tschechen dachten gar nicht mehr an das Selbsbestimmungsrecht der Völker, auf das sie sich eben noch bei der Gründung Ihres eigenen Staates berufen hatten. Den Sudetendeutschen gegenüber erklärte der tschechische Minister Alois Raë in am 4. November 1918: "Das Selbstbestimmungsrecht ist eine schöne Phrase - jetzt aber, da die Entente gesiegt hat, entscheidet die Gewalt". *87)

"Die gesamte Republik Deutsch-Österreich erklärte sich am 12. November 1918 zum "Bestandteil der Deutschen Republik", die sich in Weimar verfassungsmäßig konstituieren sollte. Auch die Tschechen verwarfen das kaiserliche Manifest: Ihre Führer hatten bereits am 2. Oktober 1918 erklärt, eine Regelung im Rahmen der Monarchie komme nicht (mehr) in Frage, vielmehr seien für sie die von der tschechoslowakischen Auslandsregierung mit den Siegermächten erarbeiteten Entscheidungen maßgebend." *87)

Mit der Anerkennung des tschechisch-slowakischen Nationalrates als kriegführende Regierung durch die Entente bestand Kriegszustand mit Österreich-Ungarn. Das tschechische Militär war zu einem Teil der alliierten Streitkräfte - unter französischem Oberbefehl - geworden. Nach den Bestimmungen des Waffenstillstandsvertrages vom 3. November hatten die Tschechen damit das Recht, jeden ihnen strategisch wichtig erscheinenden Ort in den böhmischen Ländern zu besetzen. Diese Besetzung der deutschen Gebiete begann am 10. November und endete am 18. Dezember mit der Besetzung Troppaus (im Einvernehmen der Entente als strategisch wichtigem Punkt - wobei Jägerndorf erst im Januar 1919 besetzt wurde). Mit dieser Besetzung waren für die Sudetendeutschen Tatsachen geschaffen worden. *89) Erst später wurde aus Akten bekannt, daß ein Teil der führenden Männer der Entente Bedenken gegen diese Einverleibung, und daß Beneš sie getäuscht hatte. Mit seinen Memoranden sowie mündlich vorgetragenen Lügen und Fälschungen räumte er die Widerstände der britischen und amerikanischen Diplomaten aus dem Weg, um zu den "historischen Grenzen" zu kommen.

Abbildung 4: Die Fälschung auf der Friedenskonfrenz

Die Besetzung der sudetendeutschen Gebiete ging nicht unblutig vor sich. Bei einem Zwischenfall auf dem Stadtplatz von Mährisch-Trübau wurden am 29. November 1918 sechs Deutsche von tschechischem Militär erschossen. *90) Dies war im Schönhengstgau die erste Begegnung zwischen Deutschen und Tschechen seit der Hussitenzeit vor fast 500 Jahren, die die Bezeichnung "Gewaltanwendung" verdient. *91)

Bei den Deutschen in Böhmen und Mähren flammte mehr und mehr der Wunsch auf, sich von den Tschechen zu trennen. Mehr als 700 Jahre hatten Tschechen und Deutsche meist problemlos nebeneinander gelebt, bedingt auch durch die Sprachbarriere. Als Folge entstand eine Sprachgrenze, die in den letzten 300 Jahren keine bedeutende Veränderung mehr erfahren hat. "Zusammengerückt und verbündet haben sich Deutsche und Tschechen in den großen Bauernaufständen der Jahre 1680 und 1775 in Böhmen. An der Fahnenweihe der Nationalgarde in Zwittau am 29. September 1848 haben auch die Garden Leitomischl und Policka teilgenommen ... Verdorben wurde das Verhältnis der beiden Sprachvölker in der Zeit zwischen 1864 und 1914 in den parlamentarischen Auseinandersetzungen in Wien und in den Landtagen in Prag und Brünn. Die Zeit des Weltkrieges setzte den Prozeß der Abneigung und Entfremdung in verstärktem Maße fort ... Die "geistige" Trennung brachte ... der Herbst 1918." *92)

Am 24. November verkündeten die sudetendeutschen Abgeordneten, "daß "Deutschböhmen" und das "Sudetenland" (hier Deutschmähren und Deutschschlesien) Provinzen Deutsch-Österreichs seien, die von frei gewählten Landesregierungen verwaltet werden. Zum Landeshauptmann von Deutschböhmen wurde zunächst der Abgeordnete Pacher gewählt, der aber nach wenigen Tagen zurücktrat und von Dr. Rudolf von Lodgman abgelöst wurde, Landeshauptmann des Sudetenlandes wurde der Abgeordnete Robert Freißler. Den Landesregierungen gehörten Vertreter aller politischen Parteien an; auch in der deutschösterreichischen Regierung zu Wien waren die Sudetendeutschen vertreten".


*84) Komar, Hans: Vor 80 Jahren: Die Toten des 29. November 1918 in Mähr.-Trübau, die ersten Blutopfer einer sinnlosen militärischen Demonstration im Umsturzjahr 1918, in: Kulturstelle des Landschaftsrates Schönhengstgau der S.L. und des Schönhengster Heimatbundes e.V. Göppingen (Hrsg.) Schönhengster Jahrbuch 1998, Göppingen o.J., S. 129
*85) Franzel, Emil: a.a.O., S. 328 f. und Hilgemann, Werner: Atlas zur deutschen Zeitgeschichte 1918 - 1968, München 1984, . 19
*86) Raschhofer, Hermann, Kimminich, Otto: a.a.O.; S. 102 f.
*87) Böse, Oskar; Eibicht, Rolf-Josef: a.a.O., S. 45
*88) Habel, Fritz-Peter: Die Sudetendeutschen, a.a.O., S. 29
*89) vgl. Komar, Hans: a.a.O., S. 129
*90) vgl. Komar, Hans: a.a.=., S. 127 ff.
*91) ebd. S. 131
*92) vgl. ebd., S. 131 f.

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