Die Entscheidung war längst gefallen

Aus den Veröffentlichungen von Teilnehmern an der Versailler Konferenz geht hervor, daß die Entscheidung über die sudetendeutsche Frage längst vor der Ankunft der österreichischen Delegation in St. Germain gefallen war. Die Noten, Denkschriften, die gesamte Arbeit der österreichischen Delegation hatte daher überhaupt keinen Einfluß darauf. Das Exposé Dr. Beneschs fand am 5. Februar 1919 statt, die Sitzung des Ausschusses für tschechoslowakische Fragen, in der erstmalig über die Grenzziehung entschieden wurde, am 27. Februar 1919. *109)

Als am 1. April Lansing seine Vorbehalte vortrug, "kam Wilson selbst im Rahmen einer Erörterung der allgemeinen Konferenzlage auf die unbefriedigende Lösung der Nationalitätenfrage zu sprechen. Der Friede mit Deutschland beseitige nicht alle Schwierigkeiten. "Ich fürchte diejenigen sehr die aus der Lage aller dieser in Bildung begriffenen Nationalitäten Mitteleuropas entstehen können. Es gibt dort eine unerschöpfliche Quelle von Unruhen und Kriegen, wenn wir nicht Acht haben." Und so schlug er vor, daß die Territorialkommission ihre Berichte unter der Berücksichtigung "unserer Fundamentalprinzipien" überprüfen sollte. Auch die tschechoslowakischen Grenzvorschläge sollten also an Hand der 14 Punkte des Selbstbestimmungsrechtes neu geprüft werden. Wenige Tage hernach aber brach Wilson physisch zusammen und erholte sich nicht wieder. Oberst House, sein Vertreter, wird als ein den Franzosen "stets nachgiebiger Helfer" geschildert. Die von Wilson selbst für nötig gefundene Revision unterblieb." *110)

Die westlichen Grenzen der Tschechoslowakei wurden am 1. April 1919 festgesetzt. Der Rat der Vier hat noch vor dem 8. April 1919 den endgültigen Beschluß gefaßt, die bestehende deutsch-böhmische Grenze als Grenze zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei im Versailler Vertrag festzulegen und alle Änderungsvorschläge abgelehnt. Die deutschösterreichische Regierung erhielt die Einladung am 2. Mai 1919. Am 14. Mai traf die österreichische Delegation in St. Germain ein. Aus einem Schreiben Beneë s an den Generalsekretär der Friedenskonferenz geht hervor, daß das Schicksal der Deutschen in Böhmen damals bereits entschieden war. *111)

In Abschnitt 6 der Denkschrift Nr. 3 der tschechoslowakischen Delegation an den Ausschuß der Konferenz für die neuen Staaten vom 20. Mai 1919 befaßte sich Benesch mit dem Schicksal der Deutschen in der tschechoslowakischen Republik. Alle Ämter sollten allen Staatsbürgern zugänglich und die Sprache der Minderheiten überall zugelassen sein. Das Recht ihrer eigenen Schulen, Richter und Gerichtshöfe sollte niemals irgendeiner Minderheit bestritten werden. Zusammenfassend würden die Deutschen in Böhmen dieselben Rechte haben wie die Tschechoslowaken. Die deutsche Sprache würde die zweite Landessprache sein und man würde sich niemals irgendeiner Unterdrückungsmaßnahme gegen den deutschen Bevölkerungsteil bedienen. Das Regime würde ähnlich dem der Schweiz sein. Benesch führte weiter aus, daß die Tschechen im 19. Jahrhundert viel praktischen, vor allem aber politischen Sinn bewiesen haben. Sie sind demnach viel zu sehr Realisten und haben zu viel gesunden Menschenverstand, um nicht zu sehen, daß Gewalttätigkeiten und Ungerechtigkeiten die Ursachen des Untergangs Österreich-Ungarns gewesen sind und daß eine ähnliche Rolle nur ihrem eigenen Staate und ihrer Nationen schaden könnte. *112)

Der Friedenskonferenz hatten die Tschechen also versprochen, ihren Staat als eine "Schweiz" einzurichten. Da die Sudetendeutschen keinen gewaltsamen Versuch eines Widerstandes machten, wären Verhandlungen von Volk zu Volk oder mindestens für die Wahl einer Nationalitätenversammlung möglich gewesen. Doch die Tschechen dachten nicht daran, ihren Staat auf eine Verständigung mit den nichttschechischen Völkern zu gründen. Statt dessen beruhte der tschechoslowakische Staat auf mehr als einer Lüge. *113) "Es gab und gibt keine tschechoslowakische Nation, sondern nur ein tschechisches und ein slowakisches Volk, die nicht nur durch ihre Sprache, Überlieferung und Eigenart verschieden sind, sondern auch 1918 zum ersten mal in ihrer tausendjährigen Geschichte in einem Staat vereint wurden. Immer hatten die Slowaken zu Ungarn, die Tschechen zu Böhmen und Österreich, zum Römisch-Deutschen Reich, gehört." *114)

Im Hinblick auf die Verkündung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch den amerikanischen Präsidenten Wilson und auf die böhmische verfassungsrechtliche Tradition hätte es im Sinne der föderalistischen böhmischen Staatsidee gelegen, daß die Sudetendeutschen theoretisch das Recht auf Selbstbestimmung gefordert, praktisch aber erklärt hätten, als freie und autonome Nation im Staate verbleiben zu wollen. Das hätte aber die tschechische Bereitschaft vorausgesetzt, nicht einen tschechoslowakischen Nationalstaat, sondern einen übernationalen föderalistischen Staat zu schaffen. Die Anwendung des schweizer Beispiels hätte u.a. bedeutet, daß die knapp 50% Tschechen gegenüber den rund 25% Deutschen, den Slowaken, Ukrainern, Ungarn und Polen nicht mehr Rechte beansprucht hätten als in der Schweiz die 75% Deutschschweizer gegenüber den 18% französisch sprechenden und den 9% italienisch und räthoromanisch sprechenden Eidgenossen beanspruchen. Das hätte bedeutet, daß es keine Staatsnation und keine Staatssprache, keine Minderheiten und keine zentralistische Verwaltung, sondern gleichberechtigte Völker mit dem gleichen Anspruch auf Geltung und Gebrauch ihrer Sprache, und daß es national abgegrenzte Kantone mit weitestgehender Selbstverwaltung gegeben hätte. Ja, das hätte bedeutet, daß die Präsidentschaft der Republik abwechselnd ein Tscheche, ein Deutscher und ein Slowake innegehabt und daß die Regierung, wie in der Schweiz, von einem kollegialen Bundesrat ausgeübt worden wäre, in dem sämtliche Nationen vertreten gewesen wären. Da aber die Tschechen ihren Staat als einen Nationalstaat, sich selbst als die staatsgründende, darum zur Herrschaft berufene Nation, ihre Sprache als die Staatssprache proklamierten, war von Anfang an die Brücke zur Verständigung blockiert. Die Tschechen forderten nicht Ausgleich, sondern Unterwerfung. Sie erklärten die deutschen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens als untrennbare Bestandteile ihres Staates und leiteten daraus das Recht ab, über die Bewohner des gesamten Staatsgebietes die Souveränität auszuüben. *115)

Am 6. September 1919 wurden in der Nationalversammlung in Wien die Friedensbedingungen behandelt. Prälat Hauser spielte auf die Internierung und das Verbot mündlicher Verhandlungen an. Es sei am allerschwersten, jemanden beizukommen, der einen nicht einmal anhörte. Die Hohe Entente und der Hohe Fünferrat hätten es mit ihrer Würde nicht vereinbar gefunden, mit den österreichischen Delegierten zu sprechen oder ihnen eine Aussprache zu gewähren. *116) In der Ratifikation des Friedensvertrages durch die Nationalversammlung hieß es:

"Die Nationalversammlung der Republik Deutschösterreich nimmt den Bericht des Staatskanzlers über den Verlauf und die Ergebnisse von St. Germain zur Kenntnis ... In schmerzlicher Enttäuschung legt sie ihre Verwahrung ein gegen den leider unwiderruflichen Beschluß der alliierten und assoziierten Mächte, dreieinhalb Millionen Sudetendeutsche von den Alpendeutschen, mit denen sie seit Jahrhunderten eine politische und wirtschaftliche Einheit bildeten, gewaltsam loszureißen, ihrer nationalen Freiheit zu berauben und unter Fremdherrschaft eines Volkes zu stellen, das sich in demselben Friedensvertrag als ihr Feind bekennt. Ohne alle Macht, dieses Unheil abzuwenden und Europa die unvermeidlichen Wirkungen zu ersparen, die aus dieser Versündigung an dem heiligsten Rechte der Nation erwachsen müßten, legt die deutschösterreichische Nationalversammlung die geschichtliche Verantwortung für diesen Ratschluß auf das Gewissen jener Mächte, die ihn trotz unseren ernstesten Warnungen vollziehen ... Die Nationalversammlung erwartet, daß der Völkerbund das unfaßbare Unrecht, das an den Sudetendeutschen verübt werden soll, baldigst wieder gut machen wird. ... Sie erwartet, daß die in der Antwort gegebenen Zusicherungen von den Mächten erfüllt werden, sie sieht im Völkerbund jene Instanz, die berufen sein wird, auch unserer Republik ihr Recht wieder zu geben und dauernd zu sichern ..." *117)

Die erste tschechische Nationalversammlung war ausschließlich von tschechischen politischen Parteien beschickt. Insbesondere waren darin die eine relativ starke Minderheit repräsentierenden Deutschen nicht vertreten, die somit politisch entrechtet waren. Mit Gesetz vom 11. März 1919 wurde die Nationalversammlung von 250 auf 270 Mitglieder verstärkt, darunter erstmals auch Slowaken. Die Mitglieder waren jedoch nicht gewählt, sondern wurden von den Parteien ernannt. Die anderen Bevölkerungsteile blieben weiter außen vor. Sudetendeutsche Bemühungen um Verhandlungen zwecks Mitarbeit am Neubau des Staates wurden vom Minister Raschin brüsk abgelehnt. Die Nationalversammlung der Jahre 1918 - 1920 hat also keine demokratische Grundlage gehabt. Sie wurde auch nachträglich nicht gesucht, als infolge der Unterzeichnung der Friedensverträge von Versailles und St. Germain im Juli bzw. September 1919 die sudetenländischen Grenzen bereits feststanden. Gegenüber den Bevölkerungsteilen, die in der Nationalversammlung nicht vertreten waren, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Staates, erscheint die gesamte Tätigkeit der Nationalversammlung als aufgezwungener fremder Wille, so grundlegend Sie auch später für die Gesetzgebung wurde. *118)

Art. 86 des Versailler Vertrages gab dem Deutschen Reich wenigstens das Recht, die Durchführung der Minderheitenschutzbestimmungen nicht nur von den alliierten und assoziierten Hauptmächten, sondern unmittelbar von der Tschechoslowakei zu verlangen. Der spätere Richter am ständigen internationalen Gerichtshof in Haag, M. O. Hudson, der selbst Mitglied des Ausschusses für die neuen Staaten auf der Versailler Konferenz war, drückte dies dahin aus, daß dieser Artikel Deutschland berechtige, darauf zu sehen, daß die übernommenen Garantien auch verwirklicht würden. *119)


*109) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 128
*110) ebd., S. 131
*111) vgl. ebd., S. 128
*112) vgl. ebd., S. 137 f.
*113) vgl. Franzel, Emil: a.a.O., S. 336 ff.
*114) ebd., S. 338
*115) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 143
*116) vgl. ebd., S. 133
*117) ebd., S. 133 f.
*118) vgl. ebd., S. 142
*119) vgl. ebd., S. 136

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