Die Sudetendeutschen sammeln sich

Im Jahr 1933 gründete Konrad Henlein die Sudetendeutsche Heimatfront, die sich auf tschechischen Druck zur Zulassung bei den Wahlen 1935 in Sudetendeutsche Partei umbenennen mußte. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Not in den Sudetengebieten propagierte sein Gründungsaufruf "Sicherung und Aufbau unseres Volksbesitzstandes: unseres Heimatbodens, unserer kulturellen Einrichtungen, unserer Wirtschaft und unseres Arbeitsplatzes" jenseits von "Parteien- und Völkerhaß", mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zu einem "friedlichen Zusammenleben der Völker" in der Tschechoslowakei. Die zentrale Forderung lautete sudetendeutsche Autonomie. Mögen auch führende sudetendeutsche Nationalsozialisten an der Redaktion dieses Gründungsaufrufs beteiligt gewesen sein, hat Henlein doch mit seinem Postulat, die Sudetendeutsche Heimatfront "auf ständischer Grundlage" aufzubauen, auf die vom Nationalsozialismus bekämpfte Vorstellungswelt Othmar Spanns zurückgegriffen, dessen Kameradschaftsbund ein Großteil der Führungskräfte der Henleinbewegung angehörte oder ihm - wie Henlein selbst - nahestand. Der Wiener Philosoph Spann wollte im Rückgriff auf die mittelalterliche, christliche Reichsidee die Gesellschaft in einem Ständestaat neu geordnet wissen. *139) Seine Schüler befanden sich somit in gewissem Widerspruch zum Nationalsozialimus, standen Hitlers Anhängern ablehnend gegenüber und haßten insbesondere die SS. *140) In einer Rede am 21. Oktober 1934 in Böhmisch Leipa distanzierte sich Henlein ausdrücklich vom Nationalsozialismus. *141)

Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, allen voran Großbritannien, wendeten sich in dieser Zeit immer mehr vom Versailler System ab. Maßgeblich dazu beigetragen hatte die Entwicklung in der Tschechoslowakei und das Verhältnis der Tschechen zu den übrigen Völkern. In einem Bericht an sein Außenministerium berichtete der britische Gesandte in Prag, Sir Joseph Addison am 3. März 1934: "Wenn man ein künstliches Gebilde erhalten will, verlangt dies künstliche Unterstützung, und so wird jedermann mit einer gewissen Beobachtungsgabe die außergewöhnlich schwierige Lage feststellen können, in welcher dieser Staat (das heißt die Tschechoslowakei) durch seine bloße Existenz kommen mußte: Ärgerliche Grenzen, ein mächtiger Nachbar [gemeint: Das Deutsche Reich] auf drei Seiten, der seine Vernichtung wünscht, und zwei weitere Nachbarn [gemeint: Polen und Ungarn], die die Tschechoslowakei aus tiefstem Herzen verachten und den gleichen Wunsch haben. Außerdem hat sie ausgedehnte Landesgrenzen, an denen hauptsächlich Volksgenossen leben, die - ob zu Recht oder zu Unrecht - sehr illoyal sind und nichts anderes wünschen als das Verschwinden dieses Staates in seiner jetzigen Konstruktion. Für einen Engländer, der in englischen Begriffen denkt, wäre es nun an der Zeit, einzuwenden, daß man den augenblicklichen Zustand der Spannung hätte vermeinden können, wenn man eine weise Politik der Beschwichtigung gegenüber den Minderheiten innerhalb der Staatsgrenze betrieben hätte ... Für den Realisten bleibt die Tatsache, daß die Tschechoslowakei ihre Minderheiten nicht befriedigt hat ... Durch eine angemessene Behandlung der Minderheiten wäre nämlich die tschechische Minderheitenherrschaft verschwunden, die Kern des Staatsaufbaues ist." *142)

"Die öffentliche Meinung der westeuropäischen Länder war einer Revision der seinerzeit getroffenen Entscheidungen nicht mehr völlig abgeneigt; speziell im Falle der Tschechoslowakei förderten die Veröffentlichungen von Memoiren und Akten über die Vorgänge bei Weltkriegsende die Auffassung, daß bei der Gründung der CSR demokratische Grundsätze verletzt worden seien." *143) Als der amerikanische Diplomat Hunter-Miller sein Tagebuch aus der Zeit der Friedenskonferenz veröffentlichte, wurde Beneš moralisch schwer belastet und sein Ansehen in England tief erschüttert. Die deutsche Propaganda nutzte das selbstverständlich aus. Schon begann man in England, die Tschechoslowakei moralisch abzuschreiben ... *144)

Auch im Sudetenland ereigneten sich Neuheiten: Die Parlamentswahlen in der CSR im Mai 1935 wurden zu einem politischen "Erdrutsch": Die Sudetendeutsche Partei erhielt mit 1,25 Mill. Stimmen 73.000 Stimmen mehr als die tschechische Agrarpartei, welche stärkste tschechische Kraft wurde. Aufgrund der Wahlgeometrie erhielt die SdP jedoch ein Mandat weniger als die tschechische Agrarpartei. *145) Die SdP hatte jedoch mit 44 Mandaten doppelt so viele Mandate gewonnen wie die "aktivistischen" Parteien, welche zusammen auf 22 Mandate kamen.

Ab 1935 knüpfte Henlein Auslandskontakte zur Erreichung seiner Ziele, vornehmlich mit Berlin und London. Die deutsche Reichsregierung und die NSDAP gaben finanzielle Hilfe und politische Ratschläge, lehnten aber ein unmittelbares Eingreifen ab. In Großbritannien versuchte Henlein Hilfe für eine gerechte Lösung des sudetendeutschen Problems zu erhalten, worunter die Umstrukturierung in einen Nationalitätenstaat zu verstehen war. *146)

In der britischen Öffentlichkeit wuchs seit 1936 die Überzeugung, daß Beneš ein Lügner, daß die Tschechoslowakei eine Fehlgründung und eine Gefahr für den Weltfrieden sei und daß nur durch wesentliche Zugeständnisse an die Sudetendeutschen diese Gefahr beseitigt werden könne." *147) "Benesch gab im August 1936 bei seinem Besuch der Reichenberger Messe zu, "in wirtschaftlichen Angelegenheiten" seien Verstöße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Staatsbürger wie zum Beispiel der Transfer von Arbeitern und Unternehmern in die deutschen Gebiete vorgekommen. Die Reichenberger Kammer würdigte im November den Einsatz des Staatspräsidenten: Er habe sich "in sehr anerkennenswerter Weise" zu diesem Problem geäußert, habe sich in der Praxis aber bisher nicht durchsetzen können. *148)

Die deutschen Parteien haben auf dem Weg der Gesetzgebung nichts erreicht. Ihre Erfolge beschränkten sich darauf, Schlimmeres zu verhüten und durch persönliche Intervention im Einzelfall dies oder jenes herauszuschlagen. So wurde das Nationalitätenproblem langsam aber unaufhaltsam zur Lebensfrage des Staates. Die Tschechoslowakei sah sich im zweiten Jahrzehnt ihres Bestandes vor denselben Problemen des "nationalen Ausgleichs", die aus der Verfassungsgeschichte Österreich-Ungarns bekannt sind. Nicht nur bei den Sudetendeutschen, sondern auch bei den Slowaken stieg das nationale Selbstbewußtsein. Es machte sich aber bei ersteren besonders bemerkbar, da die Verhältnisse jetzt vollkommen verschieden von denen der Jahre 1918/1919 waren. Der Hauptunterschied lag hier in dem Dasein der starken "Sudetendeutschen Partei" unter Konrad Henlein seit 1935. Die Partei hatte das Problem einer Angleichung der tschechoslowakischen Staatsstruktur an die soziologische Wirklichkeit des Nationalitätenstaates als Grundsatzforderung gestellt. Ein Zeichen dafür waren die sogenannten Volksschutzgesetzentwürfe, die sie dem Parlament im April 1937 vorlegte und die von den nationalitätenrechtlichen Gedanken des altösterreichischen Staates getragen waren. Die Partei war also, wie es den Anschein hat, ursprünglich überwiegend autonomistisch, d.h. sie erstrebte einen Verfassungsumbau des Staates. *149)

Erst am 18. Februar 1937 stellte sich ein gewisser Fortschritt ein, als die aktivistischen Parteien ihr Ziel, die Deutschen in der Republik in den Rang eines "zweiten Staatsvolkes" zu erheben, mit der Annahme der Denkschrift der drei aktivistischen Minister durch Präsident Hodû da erreichten. Aber die Selbsverwaltung in wirtschafltichen und sozialen Fragen blieb weiter aus. *150)


*139) vgl. Dolezel, Stephan: Grundzüge der Tschechoslowakei-Politik, in: Hoensch, Jörg K.; Kovac, Dusan (Hrsg.): a.a.O., S. 76
*140) vgl. Kural, Vaclav: Die Tschechoslowakei als Nationalstaat?, in: Hoensch, Jörg K.; Kovac, Dusan (Hrsg.): a.a.O., S. 68
*141) vgl. Habel, Fritz Peter; Kistler, Helmut: Die Jahre 1933 bis 1937, in: Informationen zur politischen Bildung, a.a.O., S. 8
*142) vgl. Habel, Fritz-Peter: Die Sudetendeutschen, a.a.O., S. 56
*143) Habel, Fritz Peter; Kistler, Helmut: Die Jahre 1933 bis 1937, in: Informationen zur politischen Bildung, a.a.O., S. 8
*144) vgl, Franzel, Emil: a.a.O., S. 377
*145) vgl. Böse, Oskar, Eibicht, Rolf-Josef: a.a.O., S. 58
*146) vgl. ebd.
*147) Franzel, Emil: a.a.O., S. 378
*148) vgl. Boyer, Christoph: Die Vergabe von Staatsverträgen, in: Hoensch, Jörg K.; Kovac, Dusan (Hrsg.), a.a.O., S. 95
*149) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 144 f.
*150) vgl. Boyer, Christoph: a.a.O., S. 111

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