Fürstenstaat oder Nationalstaat?

Bis ins 18. Jahrhundert waren die Völker Mitteleuropas durch den dynastischen Gedanken und den territorialen Staatsbegriff zusammengehalten worden. DieTürkenkriege haben dabei eine wesentliche Rolle als gemeinsame abendländische Verteidigungsaufgabe gespielt. Die Aufklärung und der neue von der französischen Revolution den Völkern Europas vermittelte Nationalbegriff, die Ablösung der ständischen durch die bürgerliche Gesellschaft, besonders aber der durch Johann Gottfried Herder formuliert und in die Völker Mitteleuropas hineingetragene neue Volksbegriff brachte diese Völker in gewaltige Gärung und Bewegung. *51)

Vorbilder waren die in den Vereinigten Staaten und Frankreich vorgelebten Beispiele moderner, das heißt liberaler und demokratischer Nationalstaaten. Ideen und Praxis faszinierten auch die zu Selbstbewußtsein erwachenden Völker Mittel- und Osteuropas. Für die weitere Entwicklung in diesen Gebieten war wichtig, daß diese nationalstaatliche Idee nicht einfach übernommen wurde. Von der Herderschen Volksgeistlehre ausgehend prägten deutsche Romantiker eine spezifische Vorstellung von Staat und Volk. Im Unterschied zum westeuropäisch-angloamerikanischen Verständnis gab es zunächst das Volk, in das man hineingeboren wurde und dessen geistige Gemeinsamkeit sich in der gleichen Sprache ausdrückte. Demgegenüber existierten der Staat bzw. Staaten. Sie waren institutionell meistens ohne Beteiligung der "Untertanen" aufgebaut. Jetzt sollten sie sowohl von den "Staatsbürgern" mindestens mitgesteuert werden (Liberalisierung) als auch den Völkern bergende Hülle sein (Nationalismus). Diese Vorstellung führte zum Leitsatz "Jedem Volk sein Staat!" und zum Prinzip "Das ganze Volk in einem Staat!". In der Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft vor 1813 hatten das politische Bewußtsein und das Verlangen nach nationaler Selbstverwirklichung starke Impulse empfangen. Das Erlebnis des von allen deutschen Stämmen und vielen europäischen Völkern geführten Befreiungskampfes ließ die Hoffnung aufkommen, nach dem gemeinsam errungenen Sieg werde das System monarchischer, zum Teil übernationaler Territorialstaaten abgelöst durch ein Gefüge demokratisch gestalteter Nationalstaaten. Der Wiener Kongreß 1815 machte diese Erwartung zunichte (Statt des vielfach erhofften Nationalstaates bekam Deutschland nur die lose Form des Deutschen Bundes). Es begann die ein Jahrhundert währende Auseinandersetzung zwischen den konservativen, die fürstenstaatliche Ordnung verteidigenden Kräften und den Anhängern des liberal geprägten, demokratischen Nationalstaates. Zu dieser allgemeinen Spaltung der "Untertanenschaft" kam in Vielvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn als zusätzliche Komplikation die Frage, wie Grenzen in welcher Art gefunden werden können, um das Nationalbewußtsein der im Staat zusammengeschlossenen Völker zu befriedigen. *52)

Als äußerste Grenzlinie des Deutschen Bundes wurden die Grenzen des 1806 aufgelösten Reiches gewählt. Somit gehörten Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien zum Deutschen Bund. Dagegen lagen Habsburgs italienische Länder und die Länder in der ungarischen Reichshälfte außerhalb der Bundesgrenzen. Die Kaisermacht in Österreich verfügte zwar über ein geschlossenes Herrschaftdsgebiet. Aber in der Buntheit ihrer Völker lag eine ungeheure Sprengkraft, was im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer großen Gefahr werden sollte. *53)


*51) Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen (Hrsg.), a.a.O., S. VII
*52) bgl. Habel, Fritz-Peter: Die Sudetendeutschen, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, München 1998, S. 20 f.
*53) vgl. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen: a.a.O., S. 122

Weiter zu Kapitel 10 | Zum Inhaltsverzeichnis