Die Mission Lord Runcimans

Wie die Akten zeigen, hätte die tschechoslowakische Regierung jedoch niemals die in ihrem 1. Memorandum bezeichneten Grenzen - Verfassung 1920, Nationalstaat - überschritten. Die aufgezwungene Verfassung von 1920 und das Nationalstaatsdogma bildetem eine Art religiösen Glaubensartikel. Aber gerade sie mußten bei einer wirklichen Staatsreform fallen. Auf der anderen Seite stand die offen ausgesprochene Absicht der SdP, die innerstaatliche Lösung nur als einen Weg zu sehen, unter Umständen aber auch außenpolitisch zu operieren. *160)

Unter diesen Eindrücken und der aufkommenden Kriegsgefahr entsendete die britische Regierung einen Beobachter nach Prag, der in Wirklichkeit nichts anderes als ein Treuhänder und Schiedsrichter war. London übte auf Beneš Druck aus, daß er selbst die Entsendung des Beobachters erbitten möge. Er gab nicht ohne Bedenken nach; er wußte, daß er damit auf die Souveränität seines Staates bereits verzichtete. So erschien unter Führung Lord Runcimans ... eine britische Delegation, die in fieberhafter Tätigkeit Erkundungen auf beiden Seiten einzuziehen begann, die verschiedensten Gruppen (auch die deutschen Sozialdemokraten) anhörte und in erstaunlich kurzer Zeit nachholte, was der Westen zwanzig Jahre lang versäumt hatte. Sie gewann ein umfassendes Bild von den Lügen und Betrügereien Beneš´ und seiner Anhänger, vom wirtschaftlichen Kampf gegen das Sudetendeutschtum, von der Politik der Nadelstiche, von der Geduld und Disziplin der Deutschen, aber auch von der Tatsache, daß diese Geduld nun erschöpft war und daß bei den Sudetendeutschen ein unüberwindliches Mißtrauen gegen die Tschechen bestand. Runciman selbst traute offensichtlich dem tschechischen Regime auch keine Vertragstreue zu. Er kam zu dem Schluß, daß die Lostrennung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei die einzige vernünftige Lösung sei. *161)

Runciman sagte in seinen Schilderungen, daß er viel Sympathie mit dem sudetendeutschen Fall habe: "Es ist eine harte Sache von einer fremden Rasse regiert zu werden, und ich habe den Eindruck, daß die tschechoslowakische Herrschaft der letzten 20 Jahre in den sudetendeutschen Gebieten - obwohl nicht aktiv unterdrückend und sicher nicht terroristisch - gekennzeichnet ist durch Taktlosigkeit, Mangel an Verständnis, kleinliche Unduldsamkeit und Diskriminierung, und das bis zu einem Punkt, wo sie die Deutschen unausweichlich zum Aufstand reizen mußte. Die Sudetendeutschen fühlten, daß ihnen in den letzten 20 Jahren die tschechoslowakische Regierung manche Versprechungen gemacht hatte, denen unbedeutende oder keine Taten gefolgt waren. Diese Erfahrungen erzeugen ein unverhülltes Mißtrauen gegenüber den führenden tschechoslowakischen Staatsmännern. Ich kann nicht absehen, wie weit dieses Mißtrauen berechtigt oder unberechtigt ist." Runciman schilderte dann weiter die örtlichen Erschwernisse: "Tschechische Beamte und Polizisten ohne deutsche Sprachkenntnisse wurden in größerer Zahl in rein deutschen Bezirken angestellt. Tschechische Siedler, die Land aus der Bodenreform erhielten, wurden ermutigt, sich mitten unter der deutschen Bevölkerung anzusiedeln; für die Kinder dieser tschechischen Eindringlinge sind tschechische Schulen größerer Zahl gebaut worden; allgemein herrsche die Überzeugung, daß tschechische Firmen den deutschen bei der Vergebung von Staatsaufträgen vorgezogen werden und daß der Staat Tschechen bedeutend leichter Arbeit und Unterstützung gewährt als Deutschen. Ich glaube, daß diese Klagen in der Hauptsache gerechtfertigt sind. Sogar zu einem so vorgerückten Punkt als dem meiner Mission konnte ich keine Bereitwilligkeit auf Seiten der tschechischen Regierung zur Abhilfe auf angemessener Stufe finden." Aus "verschiedenen Gründen, einschließlich der obigen, herrschte unter den Sudetendeutschen bis vor drei oder vier Jahren Hoffnungslosigkeit. Aber die Erhebung des nationalsozialistischen Deutschland gab ihnen neue Hoffnung. Ich sehe es für eine natürliche Entwicklung an, wenn sie nach Hilfe bei ihren Stammesverwandten ausblickten und gegebenenfalls wünschen, mit dem Reich vereinigt zu werden". *162)

Unter Runcimans Einfluß kam es mit dem 3. und 4. Plan zu zwei Änderungen der bisherigen tschechischen Vorschläge. Der dritte Plan war ein Kompromiß zwischen dem ursprünglichen Regierungsvorschlag und den Forderungen der SdP. Er sah proportionalen Anteil der Nationalitäten an den Staatsstellen vor, in den deutschen Gebieten sollte zumindest die Hälfte der Beamtenstellen von Deutschen besetzt sein, vorgesehen war ferner proportionale Verteilung der öffentlichen Aufträge, Hilfe für Notgebiete, Regelung der Sprachenfrage auf der Grundlage der Gleichheit, Neuorganisation der Lokalverwaltung durch Schaffung neuer "Gaue" (drei deutsche), direkte Wahl der Vertreter in die Selbstverwaltungskörper. Am 30. August händigte Beneë den SdP-Vertretern den 3. Plan mit der Bemerkung aus, er stelle den Beginn der Verwirklichung der Karlsbader Punkte dar. Aber Runciman hatte einen ungünstigen Eindruck und war gegen die Veröffentlichung. Die SdP lehnte die Vorschläge ebenfalls ab. Im einzelnen wurde festgestellt:

  1. Die sudetendeutsche Forderung auf rechtliche Anerkennung der Volkszugehörigkeit als unabdingbare persönliche Eigenschaft sowie die tschechische Sicherung der Unveränderlichkeit des Volkstumbekenntnisses durch die Einrichtung von Katastern blieb unberücksichtigt.
  2. Die Bestimmung über nationale Selbstverwaltung, über Schulverwaltung verblieben im Rahmen unverbindlicher Verheißungen
  3. Der Begriff der staatsbürgerlichen und nationalen Gleichheit wurde durch die ausdrückliche Rezeption des Begriffs der staatlichen Unzuverlässigkeit weiterhin durchlöchert und praktisch wertlos gemacht
  4. Der Grundatz der Proportionalität wurde zwar als geltend erklärt, durch die nachfolgenden Einzelbestimmungen jedoch seiner praktischen Bedeutung völlig beraubt.

Ferner waren die den Organen der Länder und Bezirke zugedachten Zuständigkeiten geringfügig, ebenso die Zuständigkeit der nationalen Kurien der Landes- und Bezirksvertretungen.

Der Plan Beneë ´ fand also sowohl auf Seiten der Misson Lord Runcimans wie auch auf sudetendeutscher Seite ablehnende Kritik, umsomehr als bekannt war, daß der Präsident sich zur gleichen Zeit einem deutschen und einem tschechischen Universitätsprofessor gegenüber dahin geäußert hatte, er sei sich darüber klar, daß die Deutschen heute nicht mehr mit dem zufrieden sein könnten, was er selbst vor 30 Jahren in seiner Dissertation über das österreichische Problem und die tschechische Frage vertreten habe. Ein Vergleich seiner damaligen Anschauung, die auf eine völlig administrative Trennung des deutschen vom tschechischen Bevölkerungselement hinausliefen und des nunmehr von ihm vorgelegten Plans zeigte, daß dieser Plan nicht etwa mehr, sondern ganz erheblich weniger enthielt. Die Regierung erklärte sich schließlich bereit, nunmehr einen weiteren, diesmal "endgültigen" Plan auszuarbeiten, der den Karlsbader Punkten "fast völlig" entsprechen sollte. Die Meinungen über diesen Entwurf, den sogannten vierten Plan und sein Verhältnis zu den Karlsbader Punkten, waren geteilt. Lord Runcimans Auffassung ging dahin, daß er in den wesentlichsten Punkten dem Karlsbader Programm entsprach und somit eine Verständigungsmöglichkeit geboten hätte. Aber dieses Urteil wird eingeschränkt durch seine gleichzeitige Feststellung, daß angesichts des gegebenen psychologischen Stadiums an eine endgültige Lösung innerhalb des Staates nicht mehr zu denken war. Die SdP forderte eine einzige Selbstverwaltung für das gesamte Gebiet. Plan 4 sah dagegen mehrere unter sich nicht zusammenhängende Kantone vor, auch keine autonome Exekutive. Die Zusammenfassung der deutschen Volksgruppe als Rechtspersönlichkeit war unklar, und die von der SdP vertretene korporative verfassungsmäßige Gleichheit der Deutschem mit den Tschechen war wiederum nicht vorgesehen. Offen blieb ferner Punkt 8 mit der sogenannten Freiheit der deutschen Weltanschauung. *163)

Das Urteil des deutschen Juristen und speziellen Kenners der Nationalitätenrechtsfragen des Staates Rabl ist sehr zurückhaltend. Demnach ist es fraglich, ob das überaus günstige Urteil Lord Runcimans seine Berechtigung hat. Der Plan enthielt nichts über die Anerkennung der körperschaflichen Existenz der sudetendeutschen Volksgruppe, nichts über die organschaftliche Stellung ihrer gewählten politischen Vertreter, nichts über den Aufbau einer volkseigenen Selbstverwaltung neben dem staatlichen Ämterwesen, nichts von der Sektionierung der öffentlichen Verwaltung, soweit sie nicht in die völkische Selbstverwaltung übergeführt wurde - vor allem fehlten in diesem Plan jene politischen und rechtlichen Garantien, ohne die es dem Sudetendeutschtum schwer sein mußte, den Zusagen und Versprechungen der Regierung und besonders Beneë das nötige Vertrauen entgegenzubringen. Prüft man auch den Plan von der Grundfrage aus, ob er die auch von der englischen Regierung als Minimum bezeichnete Umwandlung der Republik von einem Nationalstaat in einen Nationalitätenbundesstaat bedeute, so wird man eher negativ antworten. Die kompetenteste Bewertung des Planes 4 stammt aber von Beneë selbst. Er sprach darüber zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mit einem Vertreter der sudetendeutschen Emigration in London: Als Jaksch mit Beneë in Besprechungen über eine mögliche Staatsgestaltung der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg eintreten wollte und dabei vorschlug, den 4. Plan als Ausgangspunkt zu nehmen, lehnte das Beneë kategorisch mit der Begründung ab, dieser Plan sei von ihm damals nur zur Demaskierung Henleins vorgelegt worden. *164)


*160) vgl. Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 154 f.
*161) vgl. Franzel, Emil: a.a.O., S. 391
*162) Raschhofer, Hermann; Kimminich, Otto: a.a.O., S. 167 f.
*163) vgl. ebd., S. 160
*164) vgl. ebd., S. 160 f.

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